Liebe(r) LeserIn,
vermutlich Bist du hier, weil du mysteriöse Stories magst, und da ist dieses Buch, das ich zusammen mit Christiane Weller geschrieben habe, vielleicht das Richtige für dich.
Hier also der Anfang von "Das Geschenk", dem ersten Teil der "silent sea"-Trilogie.
PROLOG
Wie
immer wusste er, dass es ein Traum war, aber schon das erste Bild
erzeugte eine solche Panik in ihm, dass er verzweifelt versuchte,
aufzuwachen.
Es
würde nicht gelingen. Es konnte nicht gelingen, weil es nie gelang.
Die Bilder würden an ihm vorbeirasen, wie ein Schnellzug in voller
Fahrt, und es war sinnlos, erwachen zu wollen, bevor der letzte
Waggon vorbeigerauscht war.
Er
war den Bildern völlig ausgeliefert. Er kannte sie alle, aber das
machte es nicht besser. Er wusste, wie der Traum zu Ende gehen würde.
Er kannte das letzte Bild, das er fürchtete, wie nichts sonst auf
der Welt: Das Bild, auf dem er sich in Adrianos Griff wand und
zurückschaute in den sonnendurchfluteten Garten, wo sich die
Strahlen der Sonne vieltausendfach in der leicht gekräuselten
Wasserfläche des Pools brachen.
Es
begann wie immer ganz friedlich: Er schwamm allein im Pool. Obwohl er
erst fünf Jahre alt war, war er ein ausgezeichneter Schwimmer und
durfte schon lange allein ins Wasser. Eigentlich war das immer schon
so gewesen. Er konnte sich jedenfalls nicht erinnern, dass seine
Eltern ihm je das Schwimmen verboten hätten – außer in
Gesellschaft natürlich.
Waren
Fremde in der Nähe, durfte er nicht ins Wasser. Seine Eltern hatten
ihm erklärt, dass er so gut schwamm, dass die Fremden neidisch und
ärgerlich werden könnten, wenn sie ihn im Wasser sahen, aber auch
da gab es Ausnahmen. Es gab nämlich einerseits die Fremden, vor
denen man nicht angeben durfte, und dann gab es da auch noch die
Menschen vom Alten Bund. Mit deren Kindern durfte man im Wasser
spielen, und das machte dann auch richtig Spaß.
Was
die Fremden so unter Schwimmen verstanden, war für den Jungen
sowieso uninteressant. Das war kaum mehr als ein müdes Geplansche,
und sie waren auch viel zu schnell erschöpft. Die vom Alten Bund
dagegen waren stark und es machte Spaß, sich mit ihnen im Wettkampf
zu messen.
In
seinem Traum war das Wetter immer schön, und unter all seiner Panik
spürte er den Frieden des Augenblicks, das Salzwasser des Pools, die
Sonne auf der Haut, die Ruhe ringsum.
Die
bis zum Boden reichenden Terrassenfenster waren geöffnet, und leise
Musik drang aus dem Haus. Es war ein Augenblick ungetrübten Glücks,
ein unvergesslicher Moment, besonders hervorgehoben durch die
Katastrophe, die gleich unausweichlich folgen musste.
Mit
kraftvollen Bewegungen durchschnitt er das Wasser wie ein Delfin,
tauchte ab, umrundete das Becken unter Wasser, und als er auftauchte,
war sie da.
Er
hatte es vorher gewusst, dass dieses kleine Mädchen am Beckenrand
stehen würde, aber er erschreckte sich trotzdem jedes Mal. Sie hatte
ihn beobachtet, als er getaucht war und das durfte eigentlich nicht
sein. Hoffentlich hatte sie nicht bemerkt, dass er viel zu lange
unter Wasser geblieben war. So lange, wie sie selbst es niemals auch
nur ansatzweise schaffen würde.
Hatte
sie es bemerkt? Es schien nicht so. Sie stand nur am Beckenrand und
sah ihn mit tränenfeuchtem Gesicht an. Sie hatte irgendeinen Kummer.
Er kannte das Mädchen vom Sehen. Der schwarze Haarschopf, die
gebräunte Haut und das winzige, orangerote Bikinihöschen waren
unverkennbar. Es war die Tochter der Nachbarn, die er hin und wieder
aus dem Fenster seines Zimmers im ersten Stock gesehen hatte. Sie
hatte in etwa sein Alter, aber sie hatten noch nie ein Wort
miteinander gesprochen.
Betont
langsam schwamm er auf die Leiter zu, aber trotzdem bildete sich vor
seiner Brust eine Welle, die sich teilte und als hoch aufgewölbtes
Dreieck aus Wasser und Lichtreflexen den ganzen Pool durchzog. Das
Mädchen bemerkte es nicht. Die Kleine war ganz in ihrem Kummer
gefangen und starrte mit leeren Augen über die Wasserfläche.
Der
Erwachsene in ihm wollte ihr zurufen, dass sie weggehen sollte, ihm
nicht zu nahe kommen, sich in Sicherheit bringen; aber er musste
hilflos zusehen, wie der Junge in seinem Traum den Griff der Leiter
erfasste und sich aus dem Wasser zog.
Das
Mädchen sprach nicht. Das tat es nie, aber trotzdem wusste er, warum
es hergekommen war: Der neue Hund der Kleinen war plötzlich
gestorben und es waren nur die Dienstboten im Haus. Mürrische,
ungeduldige Leute die sich weder für den Welpen noch für das Kind
interessierten. Ihre Eltern waren unterwegs und sie hatte dort keinen
Trost finden können, darum war sie über die Mauer geklettert, hin
zu dem Nachbarjungen, den sie hier entdeckt hatte.
Unschlüssig
stand der Junge am Rand des Pools und sah das Mädchen an. Er war so
erzogen worden, sich nicht zu sehr mit Fremden einzulassen, und
dieses hübsche, kleine Mädchen war ganz ohne Zweifel eine Fremde,
das konnte er sofort erkennen. Aber sie war doch ungefährlich, so
klein, wie sie war. Sie musste ungefährlich sein, denn sie war vor
der Gleichgültigkeit im eigenen Haus in seinen Garten geflohen, um
seinen Trost und seinen Schutz zu suchen. Und sie war sehr traurig.
Stand einfach nur da und sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen an,
die immer noch in Tränen schwammen.
Der
Junge spürte, wie allein und hilflos sie war. Sie wollte sich bloß
bei einem menschlichen Wesen ausweinen. Sie suchte seine Nähe und
sein Mitgefühl, und auf einmal war alles ganz einfach: Mit einem
raschen Blick zum Haus vergewisserte er sich, dass niemand sie
beobachtete, machte einen Schritt auf sie zu und legte ihr einen Arm
um die Schultern.
Die
Kleine atmete mit zitternden Lippen ein und legte scheu ihren Kopf an
seinen Brustkorb. Sie war wirklich klein. Ihr Kopf reichte ihm gerade
mal bis zum Kinn.
Er
spürte ihr tränenfeuchtes Gesicht auf seiner Haut und wie ihr
schmaler Körper unter kleinen Schluchzern vibrierte. Er zog sie ein
wenig dichter an sich heran, weil sie ihm unendlich Leid tat, wie sie
sich so an ihn lehnte und leise weinte. Irgendetwas in ihm gab nach
und wurde plötzlich ganz weich. In einer schützenden Geste legte er
auch noch den anderen Arm um sie und hielt sie fest.
Jetzt
kam der Traum zu der Stelle, wo der Geist des Jungen den Körper kurz
verließ. Er erhob sich ein Stück weit über die Szene und sah die
beiden Kinder eng umschlungen auf dem Rasen an der Kante des Pools
stehen. Für einen Moment war das hier der Mittelpunkt der Welt. Eine
Oase der Ruhe, des Trostes und der unschuldigen Zuneigung. Kurz
schwebte er über dem friedlichen Bild und sank wieder in den Körper
des Jungen zurück.
Etwas
hatte sich verändert.
Das
tröstende Gefühl, das er ihr hatte geben wollen, war weit in den
Hintergrund getreten und er spürte, dass die innige Berührung ihm
selbst genauso gut tat wie ihr.
Er
gab nicht nur, er konnte auch nehmen. Diesem völlig unerwarteten
Überfluss an Wohlgefühl konnte er nicht widerstehen. Es war so, als
würde er ein Geschenk erhalten, als würde das Mädchen ihm ihre
ganze Kraft und Energie schenken, und er begann zu nehmen. Er spürte,
wie ihre nackte, sonnenwarme Haut mit seiner zu verschmelzen schien.
Er spürte wie die Energie, die sie ihm gab, in seinen Körper
überströmte. Eigentlich hatte er sie nur trösten wollen, und jetzt
das! War das die Belohnung dafür, wenn man sich gütig zeigte, und
warum gab es dann das Verbot, sich mit Fremden abzugeben? Es war so
ein gutes, übermächtiges Gefühl. Was konnte daran schlecht sein?
Er
wollte mehr davon. Seine Arme umschlangen das Mädchen fester. Es gab
nach und es war, als würde der Fluss der Energie zu einem gewaltigen
Strom anschwellen. Er schloss die Augen. Machtvoll und unaufhaltsam
ergoss sich dieses neue, unglaubliche Gefühl in seinen Körper, und
er wollte mehr davon, immer mehr. Um nichts in der Welt wollte er
dieses Mädchen je wieder loslassen.
Langsam
ebbte der gewaltige Strom ab, wurde zu einem Fluss, einem Bach, einem
Rinnsal, aber es war immer noch erregend und schön.
Er
verstand es nicht, als er plötzlich Hände auf seinen Schultern
spürte, die versuchten, ihn gewaltsam von dem Mädchen zu trennen.
Er wehrte sich und hielt weiter fest. Er wollte auch noch den letzten
Tropfen aus dieser wunderbaren Quelle genießen. Er spürte, wie
etwas in seinen Armen zerbrach. Es fühlte sich an, als habe er ein
dürres Bündel Holz zu stark an sich gepresst. Er öffnete die Augen
und ließ los. Das Mädchen glitt zu Boden. Eine kräftige Hand
schloss sich um seinen Oberarm und riss ihn von der Kleinen fort,
bevor er sie noch einmal hatte ansehen können.
Es
war sein Cousin Adriano, und er ging alles andere als sanft mit ihm
um. Schnell und gewaltsam wurde er zum Haus geschleift, so sehr er
sich auch wehrte, aber auf der Schwelle zum Salon gelang es ihm doch,
sich noch einmal kurz umzudrehen.
Seine
Mutter hatte sich auf den Rasen gekniet und die Hände vor das
Gesicht gelegt, während sein Vater sich auf ein Knie herabgelassen
hatte und fassungslos auf das aschgraue Bündel starrte, das zwischen
ihm und seiner Frau lag.
Was
konnte das sein, und wo war nur das Mädchen geblieben? Es war fort,
und da war nur dieses kleine, dürre Etwas auf dem Rasen, das eine
entfernte Ähnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt hatte.
Der
Vater sah zum Haus herüber. Rasch stand er auf und versuchte das,
was da auf dem Rasen lag, vor dem Blick des Jungen zu verbergen, aber
der hatte schon genug gesehen. Es war der völlig ausgedörrt
wirkende Körper des kleinen Mädchens, der in seiner grotesk
verrenkten Stellung wie eine zerbrochene Mumie wirkte. Das orangerote
Bikinihöschen spannte sich immer noch um die grau und faltig
gewordenen Hüften. Es leuchtete in der Sonne und sandte ihm ein
letztes, höhnisches Signal der Lebensfreude und der Unbeschwertheit
hinterher; aber das Letzte, was er mit seinem kurzen Blick wahrnahm,
war der kleine, graugesichtige Schädel, um den herum ganze Büschel
ausgefallener, schwarzer Haare lagen. Das Gesicht war nach oben
gewandt, und es war die Maske des Todes, die da mit blicklosen Augen
in den makellos blauen Himmel starrte.
Keuchend
wachte er auf.
Früher
war er oft schreiend aus seinem Bett hochgefahren, wenn der Traum ihn
wieder mal ereilt hatte. aber mittlerweile war er älter und hatte
sich fast an den Schrecken gewöhnt. Trotzdem raste sein Herz wie
wahnsinnig und er merkte, dass seine Hand zitterte, als er das
Deckbett zur Seite schlug und aufstand. Die grünen Leuchtziffern auf
dem Wecker zeigten drei Uhr an.
Einige
Minuten stand er am offenen Fenster und sah über die Küstenstraße
auf das Meer hinaus. Weit draußen konnte er einige Lichter erkennen.
Dort, weit vor Port Grimaud, lagen die wirklich großen Yachten auf
Reede, die im Hafen niemals Platz gefunden hätten. Wie immer waren
auch einige dabei, die Mitgliedern des Alten Bundes gehörten.
Die
Unruhe in ihm hatte sich noch nicht gelegt. Er wandte sich vom
Fenster ab und zog sich an, um das Hotel zu verlassen. Er musste
hinab zum Strand. Nur das Meer konnte die alte Schuld von ihm
abwaschen. – Für eine Weile wenigstens.
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Wie auch immer: Viel Lesespaß wünscht - Michael Stuhr