Freitag, 20. September 2013

Prolog "Das Geschenk"

Liebe(r) LeserIn,

vermutlich Bist du hier, weil du mysteriöse Stories magst, und da ist dieses Buch, das ich zusammen mit Christiane Weller geschrieben habe, vielleicht das Richtige für dich.

Hier also der Anfang von "Das Geschenk", dem ersten Teil der "silent sea"-Trilogie.

 

 

 

PROLOG


Wie immer wusste er, dass es ein Traum war, aber schon das erste Bild erzeugte eine solche Panik in ihm, dass er verzweifelt versuchte, aufzuwachen.
Es würde nicht gelingen. Es konnte nicht gelingen, weil es nie gelang. Die Bilder würden an ihm vorbeirasen, wie ein Schnellzug in voller Fahrt, und es war sinnlos, erwachen zu wollen, bevor der letzte Waggon vorbeigerauscht war.
Er war den Bildern völlig ausgeliefert. Er kannte sie alle, aber das machte es nicht besser. Er wusste, wie der Traum zu Ende gehen würde. Er kannte das letzte Bild, das er fürchtete, wie nichts sonst auf der Welt: Das Bild, auf dem er sich in Adrianos Griff wand und zurückschaute in den sonnendurchfluteten Garten, wo sich die Strahlen der Sonne vieltausendfach in der leicht gekräuselten Wasserfläche des Pools brachen.

Es begann wie immer ganz friedlich: Er schwamm allein im Pool. Obwohl er erst fünf Jahre alt war, war er ein ausgezeichneter Schwimmer und durfte schon lange allein ins Wasser. Eigentlich war das immer schon so gewesen. Er konnte sich jedenfalls nicht erinnern, dass seine Eltern ihm je das Schwimmen verboten hätten – außer in Gesellschaft natürlich.
Waren Fremde in der Nähe, durfte er nicht ins Wasser. Seine Eltern hatten ihm erklärt, dass er so gut schwamm, dass die Fremden neidisch und ärgerlich werden könnten, wenn sie ihn im Wasser sahen, aber auch da gab es Ausnahmen. Es gab nämlich einerseits die Fremden, vor denen man nicht angeben durfte, und dann gab es da auch noch die Menschen vom Alten Bund. Mit deren Kindern durfte man im Wasser spielen, und das machte dann auch richtig Spaß.
Was die Fremden so unter Schwimmen verstanden, war für den Jungen sowieso uninteressant. Das war kaum mehr als ein müdes Geplansche, und sie waren auch viel zu schnell erschöpft. Die vom Alten Bund dagegen waren stark und es machte Spaß, sich mit ihnen im Wettkampf zu messen.
In seinem Traum war das Wetter immer schön, und unter all seiner Panik spürte er den Frieden des Augenblicks, das Salzwasser des Pools, die Sonne auf der Haut, die Ruhe ringsum.
Die bis zum Boden reichenden Terrassenfenster waren geöffnet, und leise Musik drang aus dem Haus. Es war ein Augenblick ungetrübten Glücks, ein unvergesslicher Moment, besonders hervorgehoben durch die Katastrophe, die gleich unausweichlich folgen musste.
Mit kraftvollen Bewegungen durchschnitt er das Wasser wie ein Delfin, tauchte ab, umrundete das Becken unter Wasser, und als er auftauchte, war sie da.
Er hatte es vorher gewusst, dass dieses kleine Mädchen am Beckenrand stehen würde, aber er erschreckte sich trotzdem jedes Mal. Sie hatte ihn beobachtet, als er getaucht war und das durfte eigentlich nicht sein. Hoffentlich hatte sie nicht bemerkt, dass er viel zu lange unter Wasser geblieben war. So lange, wie sie selbst es niemals auch nur ansatzweise schaffen würde.
Hatte sie es bemerkt? Es schien nicht so. Sie stand nur am Beckenrand und sah ihn mit tränenfeuchtem Gesicht an. Sie hatte irgendeinen Kummer. Er kannte das Mädchen vom Sehen. Der schwarze Haarschopf, die gebräunte Haut und das winzige, orangerote Bikinihöschen waren unverkennbar. Es war die Tochter der Nachbarn, die er hin und wieder aus dem Fenster seines Zimmers im ersten Stock gesehen hatte. Sie hatte in etwa sein Alter, aber sie hatten noch nie ein Wort miteinander gesprochen.
Betont langsam schwamm er auf die Leiter zu, aber trotzdem bildete sich vor seiner Brust eine Welle, die sich teilte und als hoch aufgewölbtes Dreieck aus Wasser und Lichtreflexen den ganzen Pool durchzog. Das Mädchen bemerkte es nicht. Die Kleine war ganz in ihrem Kummer gefangen und starrte mit leeren Augen über die Wasserfläche.
Der Erwachsene in ihm wollte ihr zurufen, dass sie weggehen sollte, ihm nicht zu nahe kommen, sich in Sicherheit bringen; aber er musste hilflos zusehen, wie der Junge in seinem Traum den Griff der Leiter erfasste und sich aus dem Wasser zog.
Das Mädchen sprach nicht. Das tat es nie, aber trotzdem wusste er, warum es hergekommen war: Der neue Hund der Kleinen war plötzlich gestorben und es waren nur die Dienstboten im Haus. Mürrische, ungeduldige Leute die sich weder für den Welpen noch für das Kind interessierten. Ihre Eltern waren unterwegs und sie hatte dort keinen Trost finden können, darum war sie über die Mauer geklettert, hin zu dem Nachbarjungen, den sie hier entdeckt hatte.
Unschlüssig stand der Junge am Rand des Pools und sah das Mädchen an. Er war so erzogen worden, sich nicht zu sehr mit Fremden einzulassen, und dieses hübsche, kleine Mädchen war ganz ohne Zweifel eine Fremde, das konnte er sofort erkennen. Aber sie war doch ungefährlich, so klein, wie sie war. Sie musste ungefährlich sein, denn sie war vor der Gleichgültigkeit im eigenen Haus in seinen Garten geflohen, um seinen Trost und seinen Schutz zu suchen. Und sie war sehr traurig. Stand einfach nur da und sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen an, die immer noch in Tränen schwammen.
Der Junge spürte, wie allein und hilflos sie war. Sie wollte sich bloß bei einem menschlichen Wesen ausweinen. Sie suchte seine Nähe und sein Mitgefühl, und auf einmal war alles ganz einfach: Mit einem raschen Blick zum Haus vergewisserte er sich, dass niemand sie beobachtete, machte einen Schritt auf sie zu und legte ihr einen Arm um die Schultern.
Die Kleine atmete mit zitternden Lippen ein und legte scheu ihren Kopf an seinen Brustkorb. Sie war wirklich klein. Ihr Kopf reichte ihm gerade mal bis zum Kinn.
Er spürte ihr tränenfeuchtes Gesicht auf seiner Haut und wie ihr schmaler Körper unter kleinen Schluchzern vibrierte. Er zog sie ein wenig dichter an sich heran, weil sie ihm unendlich Leid tat, wie sie sich so an ihn lehnte und leise weinte. Irgendetwas in ihm gab nach und wurde plötzlich ganz weich. In einer schützenden Geste legte er auch noch den anderen Arm um sie und hielt sie fest.
Jetzt kam der Traum zu der Stelle, wo der Geist des Jungen den Körper kurz verließ. Er erhob sich ein Stück weit über die Szene und sah die beiden Kinder eng umschlungen auf dem Rasen an der Kante des Pools stehen. Für einen Moment war das hier der Mittelpunkt der Welt. Eine Oase der Ruhe, des Trostes und der unschuldigen Zuneigung. Kurz schwebte er über dem friedlichen Bild und sank wieder in den Körper des Jungen zurück.
Etwas hatte sich verändert.
Das tröstende Gefühl, das er ihr hatte geben wollen, war weit in den Hintergrund getreten und er spürte, dass die innige Berührung ihm selbst genauso gut tat wie ihr.
Er gab nicht nur, er konnte auch nehmen. Diesem völlig unerwarteten Überfluss an Wohlgefühl konnte er nicht widerstehen. Es war so, als würde er ein Geschenk erhalten, als würde das Mädchen ihm ihre ganze Kraft und Energie schenken, und er begann zu nehmen. Er spürte, wie ihre nackte, sonnenwarme Haut mit seiner zu verschmelzen schien. Er spürte wie die Energie, die sie ihm gab, in seinen Körper überströmte. Eigentlich hatte er sie nur trösten wollen, und jetzt das! War das die Belohnung dafür, wenn man sich gütig zeigte, und warum gab es dann das Verbot, sich mit Fremden abzugeben? Es war so ein gutes, übermächtiges Gefühl. Was konnte daran schlecht sein?
Er wollte mehr davon. Seine Arme umschlangen das Mädchen fester. Es gab nach und es war, als würde der Fluss der Energie zu einem gewaltigen Strom anschwellen. Er schloss die Augen. Machtvoll und unaufhaltsam ergoss sich dieses neue, unglaubliche Gefühl in seinen Körper, und er wollte mehr davon, immer mehr. Um nichts in der Welt wollte er dieses Mädchen je wieder loslassen.
Langsam ebbte der gewaltige Strom ab, wurde zu einem Fluss, einem Bach, einem Rinnsal, aber es war immer noch erregend und schön.
Er verstand es nicht, als er plötzlich Hände auf seinen Schultern spürte, die versuchten, ihn gewaltsam von dem Mädchen zu trennen. Er wehrte sich und hielt weiter fest. Er wollte auch noch den letzten Tropfen aus dieser wunderbaren Quelle genießen. Er spürte, wie etwas in seinen Armen zerbrach. Es fühlte sich an, als habe er ein dürres Bündel Holz zu stark an sich gepresst. Er öffnete die Augen und ließ los. Das Mädchen glitt zu Boden. Eine kräftige Hand schloss sich um seinen Oberarm und riss ihn von der Kleinen fort, bevor er sie noch einmal hatte ansehen können.
Es war sein Cousin Adriano, und er ging alles andere als sanft mit ihm um. Schnell und gewaltsam wurde er zum Haus geschleift, so sehr er sich auch wehrte, aber auf der Schwelle zum Salon gelang es ihm doch, sich noch einmal kurz umzudrehen.
Seine Mutter hatte sich auf den Rasen gekniet und die Hände vor das Gesicht gelegt, während sein Vater sich auf ein Knie herabgelassen hatte und fassungslos auf das aschgraue Bündel starrte, das zwischen ihm und seiner Frau lag.
Was konnte das sein, und wo war nur das Mädchen geblieben? Es war fort, und da war nur dieses kleine, dürre Etwas auf dem Rasen, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt hatte.
Der Vater sah zum Haus herüber. Rasch stand er auf und versuchte das, was da auf dem Rasen lag, vor dem Blick des Jungen zu verbergen, aber der hatte schon genug gesehen. Es war der völlig ausgedörrt wirkende Körper des kleinen Mädchens, der in seiner grotesk verrenkten Stellung wie eine zerbrochene Mumie wirkte. Das orangerote Bikinihöschen spannte sich immer noch um die grau und faltig gewordenen Hüften. Es leuchtete in der Sonne und sandte ihm ein letztes, höhnisches Signal der Lebensfreude und der Unbeschwertheit hinterher; aber das Letzte, was er mit seinem kurzen Blick wahrnahm, war der kleine, graugesichtige Schädel, um den herum ganze Büschel ausgefallener, schwarzer Haare lagen. Das Gesicht war nach oben gewandt, und es war die Maske des Todes, die da mit blicklosen Augen in den makellos blauen Himmel starrte.

Keuchend wachte er auf.
Früher war er oft schreiend aus seinem Bett hochgefahren, wenn der Traum ihn wieder mal ereilt hatte. aber mittlerweile war er älter und hatte sich fast an den Schrecken gewöhnt. Trotzdem raste sein Herz wie wahnsinnig und er merkte, dass seine Hand zitterte, als er das Deckbett zur Seite schlug und aufstand. Die grünen Leuchtziffern auf dem Wecker zeigten drei Uhr an.
Einige Minuten stand er am offenen Fenster und sah über die Küstenstraße auf das Meer hinaus. Weit draußen konnte er einige Lichter erkennen. Dort, weit vor Port Grimaud, lagen die wirklich großen Yachten auf Reede, die im Hafen niemals Platz gefunden hätten. Wie immer waren auch einige dabei, die Mitgliedern des Alten Bundes gehörten.
Die Unruhe in ihm hatte sich noch nicht gelegt. Er wandte sich vom Fenster ab und zog sich an, um das Hotel zu verlassen. Er musste hinab zum Strand. Nur das Meer konnte die alte Schuld von ihm abwaschen. – Für eine Weile wenigstens.



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Ansonsten gibt es das Buch zum direkten Download auch in deinem Lieblingsshop.

Wie auch immer: Viel Lesespaß wünscht - Michael Stuhr

Mittwoch, 18. September 2013

Konfetti


tausend bunte fetzen schweben
wie ein eingefrorner wirbel
vor dem spiegel meiner seele
wenn ich dir von mir erzähle

völlig zerissen, so schillernd und bunt
schweben sie glitzernd und täuschen den blick
würd sie dir so gern als ganzes mal zeigen 
doch ein klares und einfaches bild von mir
krieg ich wohl niemals mehr wieder zurück

tausend bunte fetzen dreh'n sich
lautlos wechseln licht und schatten
schweben schon seit ewigkeiten
zeigen helle, dunkle seiten

völlig zerissen und nicht mehr zu flicken
treiben sie schillernd im scheinwerferlicht
würd' dir mein wahres ich so gerne zeigen 
doch nichts passt zusammen, die risse, sie bleiben
solang', bis der spiegel einmal zerbricht

tausend bunte fetzen schweben
wie ein eingefrorner wirbel
vor dem spiegel meiner seele
wenn ich dir von mir erzähle ...

Ein Internetministerium?

Da höre ich heute im Radio so ganz nebenbei, dass es eine Unterschriftenaktion einer Gruppe gegeben hat, die sich für die Einrichtung eines Bundesministeriums für Internetbelange stark macht. Das finde ich sehr interessant und hätte mich u.U. auch daran beteiligt, aber irgendwie hat diese Aktion es geschafft, von mir bis heute unbemerkt zu bleiben. - Schade!

http://www.moritz-schlarb.de/wordpress/wp-content/uploads/2010/03/Petition-Internet-Ministerium.pdf

Normalerweise bin ich ja der Letzte, der sich noch mehr Regulierung des öffentlichen Lebens wünscht. Manchmal kommt es mir so vor, als sei Manches jetzt schon überreguliert, aber das nur am Rande.
In diesem Fall ist es so, dass wir uns alle auf dem berühmten "Neuland" bewegen, und wie es Neuland nun mal an sich hat, wird hier mit einer Einstellung agiert, die der recht ähnlich ist, die einst im Wilden Westen geherrscht hat.
Zurzeit sind unsere Gerichte zunehmend verzweifelt damit beschäftigt, das jetzt schon geltende Recht auf die neuen Medien umzumünzen. Ein ehrenwertes Unterfangen, das aber jetzt schon in den Ansätzen scheitern muss, weil nationale Grenzen im Internet nur noch marginale Bedeutung haben.

Spontan fiel mir der Vergleich zum Verkehrsministerium ein. Den heutigen Betrieb auf den Straßen durch Gesetze aus der Pferdedroschkenzeit managen zu wollen, wäre ja ziemlich undenkbar. Bedenkt man, dass auf dem Daten-Highway ebenfalls täglich Millionen von Nutzern bewegen, wäre es doch wirklich keine schlechte Idee, für diese Menschen Rechtssicherheit zu schaffen. Ob es nun um die "ganz normale" Abzocke, Ausspähung oder Urheberrechtsverletzungen auf internationaler Basis geht, in all diesen Fällen hätte ein eigenes Ministerium, mit den entsprechenden Kontakten, ganz andere Möglichkeiten als die nationalen Gerichte.

Natürlich sehe auch ich die Gefahr, dass ein paar Übereifrige über das Ziel hinausschießen, und dass hier letztendlich eine Überregulierung droht, wie in anderen Bereichen auch; gerade deswegen sollte man aber die Chanche nicht ungenutzt verstreichen lassen, hier gestaltend einzugreifen. Vermeiden lassen wird sich eine weitere Regulierung auf Dauer sowieso nicht, und jetzt liegt es ein Stück weit auch an uns, dass sie wünschenswerte Aspekte abdeckt, effektiv ist und schließlich auch sinnvoll durchgeführt wird - wenn es dann mal so weit kommt.

In diesem Sinne

Frohes Schaffen

Sonntag, 8. September 2013

"Das Mädchen in Weiß"







Er war sich nicht ganz sicher, aber das hier war bestimmt einer der seltsamsten Tage, die er je erlebt hatte. Blöd, dass er sich an absolut nichts erinnerte, was gewesen war, bevor er sich plötzlich in dem nächtlichen Krankenzimmer wiedergefunden hatte. Mittlerweile war es Tag geworden, aber noch immer hatte er nicht die geringste Idee, was eigentlich mit ihm los war.
Seit er hier war, schien er auch keinen Schlaf mehr zu brauchen. Er erinnerte sich daran, die letzte Nacht auf einem Besucherstuhl und am Fenster stehend verbracht zu haben. Es war zuerst sehr unruhig gewesen, das war das Erste, woran er sich erinnerte. Das Klinikpersonal hatte sich um den anderen Patienten gekümmert, der auf dem Zimmer untergebracht war, und es war ihm so vorgekommen, als läge der Mann im Sterben. Seltsamerweise war ihm das völlig egal gewesen. Er hatte kaum etwas davon mitbekommen, die Situation gar nicht richtig erfassen können. – Vielleicht hatte man ihn ja unter Drogen gesetzt.
Was davor gewesen sein könnte, wusste er überhaupt nicht mehr. Es wollte nicht in sein Gedächtnis zurückkehren, so sehr er sich auch anstrengte. Die ganze restliche Nacht hatte er darüber nachgegrübelt, aber nicht das kleinste Zipfelchen seiner Vergangenheit hatte sich finden lassen, an dem er hätte ziehen können, um mehr über sich selbst ans Licht zu bringen.
Gedächtnisstörungen! – Vielleicht war das der Grund, weswegen er hier sein musste. Unwillig sah er zu dem Patienten hinüber, der seit Stunden regungslos in dem Pflegebett lag. Nur das leichte Heben und Senken des Brustkorbs verriet, dass noch Leben in diesem ausgemergelten Körper war.
Gedächtnisstörungen. – Das war doch kein Grund, ihn mit diesem lebenden Leichnam zusammen auf ein Zimmer zu stecken. Er spürte, wie kurz ein schwaches Flämmchen des Ärgers in ihm aufflammte, aber genauso schnell wie es sich entzündet hatte, erlosch es auch wieder. Eigentlich mochte er diesen Burschen sogar, der so still und hilflos sein Leiden erdulden musste. – Ob er wohl spürte, was mit ihm geschah? Man erzählte sich ja die seltsamsten Geschichten von Komapatienten.
Vorsichtig näherte er sich dem Bett und beugte sich ein wenig über seinen Zimmergenossen. - Jung war er. Jung, und sehr schmal und sehr blass. Aschblonde Haare klebten auf der verschwitzten Stirn, und wo sie die Haut berührten, waren sie durch die Feuchtigkeit um einige Nuancen dunkler. Kurz kam der Impuls in ihm hoch, die Haare ein wenig zur Seite zu streichen, aber gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass eine solche, fast zärtliche Geste dem Fremden gegenüber nicht angemessen war.
Er bemerkte ein dünnes Kabel, das unter der Bettdecke hervorkam und in eine Buchse an der Wand eingestöpselt war. – Wahrscheinlich die Verbindung zu irgendeinem Monitor im Schwesternzimmer. Das Tropfgestell am Kopfende des Betts war mit zwei Beuteln bestückt, die mit halb transparenten, trüben Flüssigkeiten gefüllt waren. – Kochsalzlösung? Nährlösung? Schmerzmittel? Er entschied sich, dass es wohl auch ein Schmerzmittel sein musste, was dem armen Kerl da unablässig in die Armvene und den Port auf dem Brustkorb gepumpt wurde, und fast kam so etwas wie Neid in ihm auf. Das war doch nicht der schlechteste Weg, völlig sediert dem Ende entgegenzudämmern. – Unser täglich Dope gib uns heute ... Wenn schon Schläuchemedizin, dann bitte aber auch mit Effekt.
Fruchtlose Gedankenspiele! Er richtete sich auf. Außerdem ziemlich makaber, wenn er sich den Kerl so ansah. - Genesung war da wohl nicht mehr angesagt. Allein der halbgefüllte Urinbeutel, der am Bettrahmen hing, ließ erahnen, dass man den armen Hund noch mehr verschlaucht und verstöpselt hatte als auf den ersten Blick zu erkennen war. Zudem war die Haut von lauter winzigen, schwarzen Pünktchen übersät. – Gewebeeinblutungen? – Jedenfalls kein gutes Zeichen! Wenn ihn nicht alles täuschte, befand sein Zimmergenosse sich im kontrollierten Sinkflug. Materialschwäche und kein Treibstoff mehr. Es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, wann die letzten Systeme versagen würden.
Zeit, sich wieder um sich selbst zu kümmern. Eigentlich ging ihn das alles ja nichts an. Er hatte schließlich ganz andere Sorgen! Er warf noch einen letzten Blick auf das blasse Gesicht, richtete sich wieder auf und setzte sich auf einen Besucherstuhl. - Dieses gigantische Loch in seinem Erinnerungsvermögen war schon bedenklich. Wann hatte man ihn hier eingeliefert, und was war der Auslöser dafür gewesen? Er hatte nicht die geringste Ahnung, wer er war. Das war doch kein Zustand. Bei nächster Gelegenheit würde er eine der Schwestern fragen, was eigentlich mit ihm los war. Vielleicht würde sich ja sogar mal ein Arzt hierher bemühen, der ihm ein paar Auskünfte geben konnte.
Das führte alles zu nichts! Er stand auf und ging zum Fenster. Das Krankenhaus schien direkt an einen Park herangebaut worden zu sein, die Aussicht war jedenfalls entsprechend. Viel zu sehen gab es dort nicht, nur einen breiten Fußweg, der schon nach wenigen Metern im dichten Grün verschwand. Schlagartig bekam er Lust, ein Stück auf diesem Weg zu gehen. Nur raus aus diesem muffigen Zimmer, in dem er nichts Anderes tun konnte, als diesem Typen auf dem Bett beim Sterben zuzusehen. Vielleicht ergab sich ja bald eine Gelegenheit ...
Versonnen schaute er in die grüne Landschaft hinaus, als sich plötzlich ein heller Fleck von der Seite in sein Gesichtsfeld hineinschob. Er schaute genauer hin und erkannte ein Mädchen, das den Weg entlang ging. Das weiße Kleid leuchtete grell in der Sonne, und die weiße Sporttasche, die an einem Gurt über ihrer Schulter hing, pendelte im Takt ihrer Schritte. Sie schien es nicht eilig zu haben. Es war mehr ein Schlendern, so, als sei sie jemandem ein Stück weit vorausgegangen und warte nun darauf, wieder eingeholt zu werden. Er schaute den Weg entlang, soweit das verschlossene Fenster das zuließ. Da war niemand, also konzentrierte er sich wieder auf die einsame Gestalt auf dem Weg, die im hellen Sonnenschein leuchtete, als sei sie halb transparent.
Das Mädchen verlangsamte seine Schritte, blieb stehen, drehte sich um und sah zu ihm hinauf. Natürlich war der Abstand zu groß um sicher zu sagen, wohin ihr Blick wirklich ging, aber er wusste genau, dass er, und nur er gemeint war. Sie musste seine Blicke in ihrem Rücken gespürt haben.
Obwohl er ja nichts Ungehöriges getan hatte, fühlte er sich erwischt, und trat hastig einen Schritt vom Fenster zurück. – Was war das denn jetzt? Er wusste ja, dass es Menschen gab, die sehr feinfühlig reagierten, aber das war ja direkt unheimlich: Nur ein kurzer Blick, kaum mehr als ein flüchtiges Wahrnehmen, wie konnte das eine so starke und zielgerichtete Reaktion bei ihr ausgelöst haben? Und warum hatte er sich vor ihr versteckt? Viel wusste er nicht über sich, aber als besonders schüchtern schätzte er sich eigentlich nicht ein.
Vorsichtig schob er sich erneut an das Fenster heran, und das Mädchen tauchte wieder in seinem Blickfeld auf. Noch immer stand es auf dem Weg und schien auf etwas zu warten. Ihr weißes Kleid leuchtete so hell in der Sonne, dass er die Umrisse des Körpers nur erahnen konnte. Sie schien sehr schlank zu sein, dennoch ging auch eine ausgesprochen weibliche Ausstrahlung von ihr aus. Ihr rotes Haar leuchtete in der Sonne, und er musste es vor sich selbst zugeben: Sie war genau der Typ Frau, der ihn ansprach.
Nach ein paar Sekunden wandte sie den Kopf und sah wieder zu ihm hinauf. Ihr Gesicht war ebenmäßig, und in diesem Moment schwand auch der letzte Zweifel: Da unten stand eine sehr schöne junge Frau auf dem Weg, die aus irgendeinem Grund auf ihn wartete. Kannte sie ihn? Kannte er sie? Er konnte sich nicht erinnern. Woher wusste sie, dass er genau hinter diesem Fenster stand? Der Impuls dieses trostlose Zimmer zu verlassen und einfach zu ihr zu gehen war so stark, dass er die Hand zu einem kurzen Gruß erhob. Auch sie winkte ihm kurz zu und beseitigte damit auch die letzten Zweifel. Er wandte sich vom Fenster ab und ging auf die Tür zu.
Genau in diesem Moment kam ein lang anhaltendes Stöhnen aus der Kehle seines Zimmergenossen und der Kopf bewegte sich krampfartig wie in einer verneinenden Geste hin und her.
Verdammt! – Da hatte er ein ganz und gar unverhofftes Date, und dann das! Ein Gefühl von Verantwortlichkeit ließ seinen Schritt stocken. Schwach nur, aber stark genug, um den armen Kerl auf dem Bett nicht allein zurückzulassen. Es sah ganz so aus, als habe er starke Schmerzen. Was konnte man tun? Unsicher bewegte er sich auf den Alarmknopf zu, aber noch bevor er ihn erreicht hatte, öffnete sich die Tür und eine Schwester kam mit schnellen Schritten herein. Ohne ihn zu beachten, wandte sie sich dem Kranken zu, sah, dass es ihm deutlich schlechter ging und drückte nun ihrerseits die Notfalltaste an der Wand.
Wenig später kam eilig eine Ärztin ins Zimmer, der eine weitere Schwester mit einem kleinen Rollschränkchen folgte, auf dem einige medizinische Geräte bereitlagen. Die Ärztin gab ein paar Anweisungen, und eine der Schwestern zog eine Spritze auf.
Seltsam war, dass er kaum verstehen konnte, was da gesprochen wurde. Mit seinem Gehör war bestimmt alles in Ordnung. Das Öffnen und Schließen der Tür, das Klappern der Instrumente – das bekam er alles mit, nur die Worte kamen bei ihm so schwach und unverständlich an, als werde die Unterhaltung in einem anderen Zimmer geführt.
Die Ärztin und eine der Schwestern kümmerten sich um den armen Kerl im Pflegebett, aber es sah nicht so aus, als würden sie viel ausrichten können. - Hoffnungslos! Er wandte sich wieder dem Fenster zu. Das hier war ihm alles viel zu nah, zu intim. Er fragte sich, warum er nicht aus dem Zimmer geschickt worden war. War das wirklich nötig, dass er miterlebte, wie dieser Typ starb? Eigentlich hätte er das Zimmer unter Protest verlassen sollen, aber etwas Unerklärliches hielt ihn davon ab. Da er unsicher war, wie er reagieren sollte, begnügte er sich damit, sich wieder dem Fenster und dem Park zuzuwenden.
Die junge Frau war noch da und schaute gleich wieder zu ihm hoch. Sie winkelte die Arme leicht vom Körper ab und drehte ihm dabei die Handflächen zu. „Na, was ist?“, schien diese Geste zu sagen. „Kommst du, oder kommst du nicht?“
Wenn es hier schon niemand nötig hatte ihn zu beachten, konnte er seine Freiheit auch ausnutzen und herausbekommen, ob sie wirklich ihn meinte, oder ob er sich doch getäuscht hatte. Er gab dem Mädchen ein zustimmendes Zeichen und verließ mit der Ärztin zusammen den Raum. Sie hatte den Kampf aufgegeben, und ein rascher Seitenblick zeigte ihm, dass der arme Kerl im Bett so tot war, wie ein Mensch nur sein konnte. Na, wenigstens die letzten Minuten hatten sie ihm mit irgendeiner Chemie noch ein wenig leichter machen können.
Das Wort „Sterbezimmer“ kam ihm in den Sinn, als er sich in Richtung Ausgang bewegte, denn an der Tür hatte er das Schild gesehen: Signalrot mit weißen Großbuchstaben und den unvermeidlichen Ausrufungszeichen: ANSTECKUNGSGEFAHR! ZUTRITT NUR IN SCHUTZKLEIDUNG! – aber da drin gab es keine Ansteckungsgefahr. Garantiert nicht! Nur diese letzte barmherzige Lüge, um einen ruhigen Abschied zu ermöglichen. - So weit, so gut, aber warum man auch ihn dort untergebracht hatte ...
Egal! Der Weg durch die langen Flure war erstaunlich leicht zu finden, und schließlich kam er auf dem Weg hinter dem Haus an. „Kenne ich dich?“ Unsicher näherte er sich der jungen Frau.
„Du hast schon von mir gehört“ Sie lächelte ihm freundlich entgegen. „aber du kennst mich nicht wirklich.“
„Du bist sehr schön.“
„Ich habe viele Gesichter, und für dich sehe ich eben so aus.“
Viele Gesichter? - Was meinte sie jetzt damit? Für ihn war sie die schönste Frau, die er je gesehen hatte. „Und warum bist du hier?“
Ein sanftes Lächeln zog sich über ihr Gesicht. „Ich habe dich erwartet. Hast du Lust, den Weg mit mir bis ganz zu Ende zu gehen?“
„Warum nicht?“ Etwas ratlos hob er die Schultern. Woher kennst du mich denn? Warum bist du hier?“
„Um dich abzuholen. – Weil es ein weiter Weg ist, den du alleine nicht schaffen kannst.“ Sie schaute kurz auf die Tasche in ihrer Hand hinab. „Du bist wirklich bereit, all das hier zurückzulassen und mit mir zu kommen?“
„Ja!“ Er nickte leicht. „Klar doch! Was ist da drin?“ Er schaute ebenfalls auf die Tasche.
„Eine Decke“, erklärte das Mädchen ohne zu zögern. „Eine Decke zum Unterlegen. Du musst zu mir kommen. Wir müssen uns vereinigen. Du musst mich ganz und gar annehmen, sonst funktioniert es nicht.“
„Du meinst, wir werden ...“ Er sprach nicht weiter. Es war ganz offensichtlich, was das Mädchen meinte.
„Sicher.“ Das Mädchen lächelte. „Kommst du?“ Sie hielt ihm die Hand hin und er griff danach. Ihre Finger verschränkten sich ineinander, und er spürte ein Wärme und Vertrautheit, wie er sie nicht für möglich gehalten hatte. An ihrer Seite würde es leicht sein, alles hinter sich zu lassen – Ja! Sie würden sich zusammen auf den Weg machen. Er war der Partner ihrer Wahl, und sie war die Frau, der er vertrauen konnte. Alles, was jemals gewesen sein mochte, zählte nicht mehr. Warum auch immer: Er hatte ein sehr gutes Gefühl bei der Sache. Ohne noch einen Moment zu verschenken gingen sie los, hinein in die einladenden Schatten der Bäume.

Die Krankenschwester beeilte sich, den toten Körper zu versorgen. Gleich würden die Pathologiehelfer kommen um den Leichnam abzuholen und dann wollte sie Port und Katheter schon entfernt haben. In gewissem Sinne war sie stolz darauf, ihrem Patienten diesen letzten Dienst erweisen zu können, von ihrer Station war noch niemand einfach so weggebracht worden. Zwar war das eine Arbeit, die sich zu zweit besser erledigen ließ, aber die Station war seit Monaten chronisch unterbesetzt, also hing sie mal wieder alleine darauf fest.
Geübte Griffe machten die Arbeit zwar nicht angenehmer, aber wenigstens leichter. Schon wenige Minuten später stand sie vor dem Waschbecken und betrachtete kritisch ihr Spiegelbild, das ihr bleich und müde entgegensah.
Die Krankenschwester seufzte, und obwohl sie alleine im Raum war, hob sie in einer resignierenden Geste kurz die Schultern.
Das Krankenzimmer war recht geräumig und in hellen Farben gestaltet, aber plötzlich wurde es ihr zu eng zwischen den cremefarbenen Wänden. Mit schnellen Schritten ging sie zum Fenster, stützte die frisch gewaschenen, noch leicht feuchten Hände auf den Marmorsims und starrte hinaus. Viel Trost hatte der hässliche Klinikparkplatz in der grauen Morgendämmerung ja nicht zu bieten, aber über dem kantigen Verwaltungsgebäude war hinter dichten Regenschleiern schon die Silhouette der Stadt zu erahnen und vermittelte einen vagen Eindruck von Weite.
Jetzt war es schon ein wenig besser. Der Druck auf ihren Brustkorb ließ etwas nach, und für einen kleinen Moment sah sie nicht mehr Beton und Asphalt, sondern nahm die Gegend so wahr, wie sie vielleicht früher mal gewesen war: Büsche und Bäume auf denen die heiße Mittagssonne lag, deren Schatten aber milde Kühle versprachen. Ein Fußweg führte in das Grün hinein, und kurz meinte sie sogar ein junges Paar zu erkennen. Ein rothaariges Mädchen und ein aschblonder junger Mann entfernten sich Hand in Hand mit zielstrebigen Schritten vom Haus. Etwas verwirrt schloss die Krankenschwester die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war das Bild verschwunden, und der regennasse Parkplatz zeigte sich wieder in all seiner morgendlichen Hässlichkeit.
- Halluzinationen! Verdammt nah am Burnout, stellte sie still für sich fest. Irgendwann würde sie sich versetzen lassen. Der Dienst in der Palliativabteilung war auf Dauer nichts für sie, aber es war ihr völlig klar, dass sie auch auf den anderen Stationen immer mit dem Sterben zu tun haben würde. Das brachte der Job so mit sich, und der Tod hat nun mal viele Gesichter.