Samstag, 5. Oktober 2013

"Die Hornisse"


 Als kleines Sonntagsgeschenk: Eine komplette Story aus dem Kurzgeschichtenband

"DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN"


DIE HORNISSE
 
Hätte ich nicht meine Krawattennadel verloren, wäre alles nicht passiert!
Eigentlich hätte ich zufrieden sein können. Endlich war die Zeit der finanziellen Misere vorbei. Der Job war zwar nicht optimal gelaufen, aber immerhin hatte ich ungestört das Lösegeld kassieren können.
  Eigentlich ist es Unsinn, die Schuld auf die Krawattennadel zu schieben. Das Blag war schuld! Hätte der blöde Bengel sich nicht irgendwie aus den Fesseln gewunden und sich die Pflasterstücke von den Augen gezogen, könnte er heute noch leben.
  Er hatte mein Gesicht gesehen.
  Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste. Er hatte sich in dem Lagerraum umgesehen, in den ich ihn gesperrt hatte. Überall waren Kartons gestapelt, auf denen meine komplette Firmenadresse stand. Auch das wäre noch zu ertragen gewesen, weil der Knirps mit drei Jahren noch nicht lesen konnte; aber er hatte auch die Ware gesehen.
  Ich handele mit Designertelefonen, die kein Aas kaufen will. Überall standen Apparate in den unterschiedlichsten Formen und Farben herum. Wenn der Bengel zu Hause ausplauderte, was der fremde Onkel für viele, tolle Klingelings hatte, konnte ich mir ausrechnen, was geschehen würde.
  Als ich mit dem Geldkoffer in der Hand ins Lager kam und das Licht anmachte, saß der Bengel ohne Fesseln auf seiner Matratze und glotzte mich mit zusammengekniffenen Augen an. Es war mir sofort klar, dass er genug gesehen hatte, um mich ans Messer zu liefern. Dabei hatte ich ihn gerade in meinen Wagen packen und irgendwo aussetzen wollen. Pech!
Ich habe das Bürschen dann wieder gefesselt und verpflastert. Diesmal gab's auch einen breiten Streifen Leukoplast über den Mund. Dann habe ich eine Decke in den Kofferraum meines Wagens gepackt und den Kleinen dort eingesperrt.
  Glauben Sie nur nicht, dass ich mir die Entscheidung leicht gemacht habe. Ich habe wirklich eine volle Stunde lang überlegt, wie ich den Bengel am humansten von der Welt schaffe. Ich hätte ihn ja auch erwürgen können oder mit einem Kissen ersticken. Aber das ist alles sehr unangenehm. Das wollte ich ihm einfach nicht zumuten.
  Also habe ich mir die Arbeit gemacht, ihn zu erschießen. Arbeit deswegen, weil es ziemlich viel Dreck macht. Es spritzt! - Sie wissen schon was ich meine, nicht wahr?
  Zum Glück gibt es bei uns in der Nähe ein Naturschutzgebiet. Ich kenne dort eine Ecke in die kaum jemand kommt. Dort habe ich dann meine .22er rausgeholt, die ich mit zweihundert Schuss Munition mal von einem Kumpel gekauft habe. Damit habe ich dem Bengel das Lebenslicht ausgepustet. Er hat garantiert nichts davon gemerkt.
  Etwas schwieriger war schon das Eingraben. Ich hatte mir selbst zur Auflage gemacht, das Loch wegen der Füchse wenigstens anderthalb Meter tief zu graben. Keine leichte Sache, wenn man nur einen Klappspaten hat. Schließlich war es dann so weit. Ganz vorsichtig hatte ich die Leiche hineingleiten lassen, obwohl das ja gar nicht nötig gewesen wäre. Aber ich bin nun mal recht feinfühlig, da kann man nichts machen.
  Als ich das Loch wieder zugeschaufelt hatte, war von dem Grab so gut wie nichts mehr zu sehen. Jetzt erst bemerkte ich, dass ich einige Blutspritzer auf meiner linken Hand hatte. Sie ließen sich aber ganz leicht abwischen. Dann zog ich den erdbehafteten Overall aus, den ich bei dieser Aktion getragen hatte, und warf ihn auf der Heimfahrt in einen Autobahn-Mülleimer. Einzig die Schuhe bedurften einer gründlichen Reinigung, was aber auch kein Problem darstellte.
  Die nächsten Tage verbrachte ich damit, das Lösegeld auf eventuelle Manipulationen hin zu untersuchen. Es schien damit aber alles in Ordnung zu sein. Ich hatte mir sogar eine UV-Leuchte und verschiedene Chemikalien beschafft, stellte aber bei keiner Banknote eine Reaktion fest. Offenbar hatten meine Partner sich an die Anweisung gehalten, nur saubere Scheine zu liefern. Ob Sie es glauben oder nicht, es tat mir direkt Leid, dass ich den Kleinen nicht hatte zurückgeben können.
  Vorsichtig, wie ich bin, hatte ich mir dann einige Hunderter genommen und war in die übernächste Großstadt gefahren. Dort hatte ich in den großen Kaufhäusern lauter kleine Teile eingekauft. Das Wechselgeld, das ich nun für meine Hunderter erhielt, war absolut sauber. So machte ich am ersten Tag viertausendsechshundert Euro Reingewinn. Clever, nicht?
  Am Abend merkte ich dann, dass meine Krawattennadel fehlte.
In der ganzen Aufregung hatte ich mich ein wenig vernachlässigt. Ich bin sonst sehr ordentlich und sauber, das können Sie mir glauben. So gehe ich zum Beispiel nie ohne Krawatte aus. Und zur Krawatte gehört immer eine passende Krawattennadel! Ich habe vierzehn Stück davon, die alle auf einem kleinen Samtkissen in meinem Schlafraum stecken. Allerdings nicht in Reih und Glied. Sonst wäre mir das Fehlen der einen, speziellen, bestimmt eher aufgefallen.
Die folgenden zwei Tage waren die Hölle! Immer wieder durchsuchte ich alle Ecken und Winkel, in die die Nadel hätte rutschen können. Kein Möbelstück blieb an seinem Platz, kein Kleidungsstück, das ich nicht mehrmals durchsucht hätte. Ohne Erfolg. Die Nadel war und blieb verschwunden. Auch im Fahrzeug und in der Firma war nichts zu entdecken. Als ich endlich sogar den Beutel des Staubsaugers erfolglos untersucht hatte, wurde mein erster spontaner Verdacht zur Gewissheit. Die Nadel lag wahrscheinlich im Grab des Bengels, draußen im Naturschutzgebiet.
  "Na, und?“, werden Sie denken. "Es gibt Millionen Krawattennadeln. So ein Ding ist kein Beweis!" Da muss ich Ihnen Recht geben. Allerdings nur im Allgemeinen. Mein spezieller Fall sah da schon etwas anders aus. Es handelte sich nämlich um ein ganz besonderes Exemplar.    
  Einer meiner Lieferanten hatte zu Weihnachten letzten Jahres Krawattennadeln in Form eines winzigen Telefons an die Händler verschenkt. Und als besondere Aufmerksamkeit trug jede davon die Initialen des Beschenkten! Alles klar?
  Ich jedenfalls wusste, was ich zu tun hatte. Nun bin ich, wie bereits erwähnt, ein recht sensibler Mensch. Horrorfilme und solchen Kram mag ich überhaupt nicht. Spätestens wenn die Helden sich zwecks Exhumierung um Mitternacht um ein Grab versammeln, schalte ich um oder schaue woanders hin.
  Jetzt stand mir also dasselbe bevor, nur dass es an der richtigen Besetzung mangelte. Normalerweise gehören zu so einer Aktion ja wenigstens drei Leute: Ein Professor der Medizin, ein Kommissar und ein Geistlicher. Dazu kommen dann noch zwei Totengräber, die die Drecksarbeit machen. Ich dagegen musste aus begreiflichen Gründen auf jede Unterstützung verzichten.
  Der Gedanke, die Leiche auszugraben, war mir zutiefst zuwider. Nahezu verzweifelt durchsuchte ich nochmals Wohnung, Firma und Fahrzeug. Aber die Nadel tauchte nicht wieder auf. Dann musste es eben sein!
  Zehn Tage, nachdem ich mit dem Jungen dort gewesen war, fuhr ich wieder zum Naturschutzgebiet hinaus. Als Geschäftsmann kann ich mir meine Arbeitszeit ja einigermaßen einteilen, also wählte ich den Dienstagmorgen. Früh um sieben war ich mit Klappspaten und Gummihandschuhen ausgerüstet bei dem Grab. Wie ich es mir gedacht hatte, war es unberührt und weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.
  Kurz spielte ich mit dem Gedanken, Nadel Nadel sein zu lassen und meiner Wege zu gehen. Andererseits stand zuviel auf dem Spiel. Sollten die Füchse die Leiche doch noch wittern und ausgraben, hätte ich verdammt schlechte Karten, das wusste ich genau. Also musste ich die Nadel aus dem Grab holen, oder mich wenigstens vergewissern, dass sie auch dort nicht war. Ich hoffte sehr, dass ich sie schnell fand, vielleicht sogar in den oberen Erdschichten. Ich hatte absolut keine Lust, den Bengel wiederzusehen, schon gar nicht nach zehn Tagen. Ich habe in meinem Wochenendhaus mal vergessen, ein Hähnchen einzufrieren. Es war Sommer. Als ich nach sechs Tagen wieder dorthin kam ... Mir dreht sich heute noch der Magen um!
Ein Summen im nahen Gebüsch lenkte mich kurz ab. Ein großes Insekt schien dort herumzuschwirren. Es war aber nicht zu erkennen.
  Ich räumte das Gestrüpp, das ich zur Tarnung über das Grab gelegt hatte, zur Seite und fing an zu graben. Die Arbeit ging gut voran. Das Wetter war trocken gewesen, und die Erde war leicht. Ich versuchte, mich auf die Erdbrocken auf dem Spaten zu konzentrieren, vielleicht entband mich ja ein verräterisches Glitzern von der weiteren Arbeit, da kam wieder dieses Summen aus den Büschen neben mir. Aus den Augenwinkeln sah ich gerade noch, wie eine außerordentlich große Hornisse im dichten Blätterwerk verschwand.
  Eilig grub ich weiter. Ich bin kein großer Insektenfreund, und wenn die Biester auch noch stechen, hört für mich der Spaß endgültig auf. Nach einigen Minuten spürte ich, wie der Boden unter meinen Spatenstichen zu federn begann. Jetzt senkte ich das Werkzeug vorsichtiger und flacher in das lockere Erdreich.
  Immer wieder schaute ich auf. Die Hornisse wollte einfach nicht verschwinden. Jetzt stand sie knapp außerhalb meiner Reichweite summend in der Luft und schien mich zu beobachten. Ich habe mal gehört, dass drei Hornissenstiche einen Menschen töten können. Langsam wurde ich nervös. Überall im Gebüsch hörte ich es jetzt brummen. Das musste ein ganzer Schwarm sein, der hier irgendwo sein Nest hatte. Ärgerlich warf ich einen Spaten voll Erde nach dem Biest. Es sollte endlich verschwinden. Geschickt wich das Tier aus.
  Plötzlich knackte es unter meinen Füßen und die Erde gab nach. Mit einem leisen Aufschrei sah ich, wie sich die Erde vor meinen Füßen zu heben begann. Der Oberkörper des Jungen bohrte sich wankend durch die Oberfläche. Heute weiß ich, dass ich vermutlich sein Becken mit meinem Gewicht in eine Mulde gedrückt hatte, aber damals glaubte ich doch tatsächlich, der Bengel wolle aufstehen und nach mir greifen. Scheußlich sah er aus, ungelogen! Augen und Mund noch von Pflastern bedeckt, wirkte er wie ein unfertiger, ungeborener Mensch; wie ein halb verwester, erdiger Embryo, der mich mit seinen verklebten Augen vorwurfsvoll anstarrte.
Ich schäme mich nicht, zu gestehen, dass mir bei diesem Anblick das Herz in die Hose rutschte. Mein empfindliches Gemüt macht mich nicht gerade geeignet für solche Aktionen. Genau in diesem Moment spürte ich einen Stich im Nacken, der sofort in einen brennenden Schmerz überging. Einen so rasenden Schmerz, wie ich ihn vorher nicht für möglich gehalten hätte. Sofort war meine linke Halsseite wie gelähmt.
  Die Hornisse! Das Mistvieh hatte mich gestochen! Mit einem Aufschrei sprang ich aus dem Grab heraus und die Leiche des Jungen sank wieder zurück in den krümeligen Boden.
  Wieder ein Stich! Diesmal in die Hand, die ich schützend in das Genick gelegt hatte. Drei Stiche können einen Menschen töten! Überall um mich her summte und brummte es. Der Schmerz machte mich halb blind. Ich ließ Grab Grab und Nadel Nadel sein und rannte! Rannte mit tränenden Augen und schmerzverzerrtem Gesicht zu meinem Wagen, hinter mir das schreckliche Summen der Hornissen. Keuchend schlug ich die Autotür hinter mir zu. Ich war gerettet! - Meinte ich.
  Den Rest des Tages verbrachte ich damit, die Stiche zu kühlen und mir Sorgen wegen des offenen Grabes zu machen.
  In der Nacht machte ich mich wieder auf den Weg. Mein Hals und meine Hand taten immer noch teuflisch weh, aber ich musste das Grab wieder ordentlich verschließen.
  Ohne suchen zu müssen, fand ich die Stelle auch in der Dunkelheit sofort wieder. Das Licht des vollen Mondes half mir dabei, und als ich mich auf dem Weg vom Wagen zum Grab kurz orientierte, zog eine einzelne Sternschnuppe ihre einsame Bahn am Himmel. Hatte mal jemand gesagt, das seien die Seelen der Kinder, die zu früh gestorben sind? Ich wusste es nicht. Ehrlich gesagt war ich ziemlich verwirrt und konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen.
Am Grab war alles noch so, wie ich es verlassen hatte. Einige Meter von dem Loch entfernt lag der Spaten noch genauso da, wie ich ihn fortgeworfen hatte. Tief in der Erde wurde das, durch die Pflaster seltsam glatt wirkende, Gesicht des Jungen vom kalten Mondlicht beschienen.
Hastig nahm ich den Spaten auf und begann, wieder Erde auf den kleinen Körper zu schaufeln. Mir war jede Lust vergangen, mich weiter mit dem Grab und der Leiche zu beschäftigen. Sie wissen ja, ich bin für so etwas nicht wirklich gut geeignet.
  Gut die halbe Arbeit war getan, als ich plötzlich aufmerkte. Da war ein Geräusch in den Büschen: - Ein dumpfes Brummen, so als würden sich tausende von Hornissen zu einem Angriff sammeln. Aber das war unmöglich. Hornissen fliegen nicht in der Nacht.
  Vor Anstrengung keuchend wuchtete ich einen Spaten voll Erde nach dem anderen in das Loch, als ich undeutlich die Silhouette einer Riesenwespe vor meinem Gesicht schweben sah. Voller Panik schlug ich mit der Hand danach, verfehlte sie aber. Ein kurzes Krabbeln unter meinem rechten Auge und ein Stich, wie von einer glühenden Nadel schleuderten mich förmlich fort von dem Grab. Überall auf meinem Körper fühlte ich nun Insektenbeine. Zwanzig, dreißig Stiche mussten es jetzt schon sein.
  Drei Stiche können einen Menschen töten? Ich weiß es besser! Hunderte von Stichen habe ich ertragen müssen, auf dem Weg zum Wagen, und jetzt sind es schon Tausende. Die Viecher gehen einfach nicht mehr weg von mir.
  Ich weiß es jetzt! Sie sind nicht echt! Es gibt keine Hornissen, die nachts fliegen. Es gibt auch keine Hornissen, die ein fahrendes Auto verfolgen und durch die geschlossenen Scheiben kommen. Es gibt ganz bestimmt auch keine Hornissen, die zu hunderten aus Wänden wachsen und über Menschen herfallen. Sie sind nicht echt, aber ihre Stiche sind es! - Nein, auch die nicht. Es fehlt das Gift! Wären diese Viecher wirklich giftig, wäre ich seit über zwei Tagen tot. Ich soll nur die Stiche spüren und die Schmerzen erleiden. Das ist es, was mir bestimmt ist: Leiden ohne Hoffnung. Schmerzen ohne Ende!
  Ich habe einen Entschluss gefasst: Es ist mir egal, ob das Grab jemals entdeckt wird. Ich werde mich selbst töten! Seit ich diese Entscheidung gefällt habe, lassen sie mich in Ruhe. Nur eine von ihnen schwebt mitten im Raum und beobachtet, wie ich hier mein Geständnis niederschreibe. Nur wenn ich versuche, sie hereinzulegen, wird sie die anderen wieder holen.
Ist es nicht lustig? Eben habe ich die Waffe aus ihrem Versteck geholt, gereinigt, geölt und neu geladen. Ich möchte keinesfalls, dass das gute Stück aus irgendeinem Grund versagt. Dabei habe ich etwas bemerkt, was mir vorher nie aufgefallen war: Es ist wirklich ein Witz. Raten Sie doch mal, was auf der Munitionsschachtel steht. Mit was für einer Kugel ich den Jungen erschossen habe? Was für ein Projektil es sein wird, das mein Gehirn in tausend Stücke reißt? Ich hoffe, dass ich den letzten Akt nicht auch noch versaue, weil ich immer wieder Lachanfälle bekomme. Die Bezeichnung der Patronen ist: .22lfb HORNET! Witzig, nicht?

 
Und die nächste Story? Die gibt es unter:


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"DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN", subtiler Horror für den Nachttisch.

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